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Ein besonderer Saft

01.01.2003
Für die Schaffung eines Lackkunstwerks sind sorgfältige Vorbereitungen und komplizierte Techniken erforderlich, so dass Wang Ching-shuang für ein Werk ein bis zwei Jahre braucht. (Chang Su-ching)

Lack wurde ursprünglich als Schutzüberzug für Möbel und Holzgeräte verwendet, doch schon bald schätzte man ihn nicht nur wegen des praktischen Nutzens, sondern auch wegen des ästhetischen Wertes. Ein Familie in Zentraltaiwan hat das Handwerk der Lackverarbeitung bewahrt und fertigt Kunstwerke aus dem natürlichen Harz an.

Lange vor der Erfindung von Kunststoffen, rostfreiem Stahl oder Teflon konnten die Menschen mit dem Harz einer giftigen Pflanze ihre Küchengeräte vor dem Verrotten bewahren. Der Lacksumach ( Rus verniciflua) ist in Ostasien zu Hause, und sein giftiger Saft härtet zu einer harmlosen Schutzhülle aus. In asiatischen Ländern wurden Küchengeräte und Möbel meist aus Bambus, Schilfrohr und den zahlreichen Harthölzern der Region hergestellt. Mit einem Überzug aus Lack hielten diese Haushaltsgegenstände länger und konnten dem durch Feuchtigkeit verursachten Verfall widerstehen. Die lackierten Produkte hatten auch noch eine andere Eigenschaft -- sie waren auffallend schön.

Das in Schichten aufgetragene Harz des Lacksumachs beizt Holz mit einem tiefen, bräunlichen Glanz. Anders als heute handelsübliche Farben schützt sich diese Beize selbst gegen die Elemente, und mit Lack überzogene Objekte können Jahrhunderte, ja Jahrtausende überdauern. Ausgrabungen an der archäologischen Stätte Homutu(河姆渡) in der festlandchinesischen Provinz Zhejiang beispielsweise förderten 1978 eine jungsteinzeitliche Holzschale mit einem Überzug aus Naturlack zu Tage. Die Schale gilt als das älteste jemals gefundene Lackobjekt, und so unglaublich es klingt -- der Überzug ist auch nach 7000 Jahren immer noch intakt.

Die alte Kunst der Herstellung von Lackgegenständen wird von einer schrumpfenden Künstlergemeinde am Leben erhalten. Der 80-jährige Wang Ching-shuang(王清霜) ist einer der wenigen Lackkunst-Meister in Taiwan. Wang schafft nicht nur heute noch selbst Lack-Kunstwerke, sondern gibt das Handwerk überdies an die jüngere Generation weiter. Zwei seiner Söhne, Wang Hsien-min und Wang Hsien-chih, werden seit ihrer Kindheit in der Kunst unterwiesen und haben im Laufe der Zeit die Finessen exquisiter Pinselführung gelernt, und wie man Motive schlichter Eleganz entwirft. Die Familie stellt sowohl praktische Lackwaren als auch Kunstwerke her und ist gleichzeitig ein lebendes Bindeglied zu der antiken Kunst.

In Taiwan trafen Lackwaren erstmals mit den chinesischen Einwanderern in der Qing-Dynastie (1644-1911) ein. Je mehr Chinesen sich auf Taiwan niederließen, desto größer wurde die Nachfrage nach Lackprodukten, und so entstand ein Handel zwischen Taiwan und der Stadt Fuzhou auf der anderen Seite der Taiwanstraße. Handwerksmeister aus Fuzhou führten Rohlack ein und machten die taiwanischen Handwerker mit Lackiertechniken bekannt. Das Aufkommen neuer Materialien für Haushaltswaren dämpfte indes die Beliebtheit von Lack, doch während bei den Chinesen die Popularität abnahm, pflegten die Japaner die Tradition. Die Japaner hatten festgestellt, dass Lackprodukte ihre Speisen beim Servieren ästhetisch besser zur Geltung brachten, und sie wurden ein geschätzter Bestandteil der kulinarischen Tradition Japans.

Während der japanischen Kolonialzeit Taiwans (1895-1945) wiederholte sich die Tradition. Die Japaner in Taiwan ermunterten die einheimischen Handwerkskünstler, Lackwaren für den Export nach Japan zu produzieren. Wang Ching-shuang war einer der wenigen Schüler, die in dieser Kunst eine formale Ausbildung von den Japanern erhielten. Wang wurde zum Meister und experimentierte mit japanischen Lackherstellungsstilen. Seine Fertigkeiten wurden im Laufe der Jahre mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter der Volks-Handwerkskunstpreis 1999 innerhalb der Siebten Internationalen Chinesischen Kultur- und Kunsterbe-Preisverleihung. "Wang besitzt hervorragendes Können, das er im Laufe eines sehr langen Zeitraums herangebildet und gepflegt hat", lobt Ueng Shyu-der, Direktor des staatlichen Handwerkskunst-Forschungsinstituts Taiwan (National Taiwan Craft Research Institute , NTCRI). "Besonders gut beherrscht er die shih-hui-Technik(蒔繪), mit der er den renommierten japanischen Künstlern Konkurrenz macht, die den gleichen Stil praktizieren. Um eine so hohe Qualität zu erreichen, braucht man Hingabe und Geduld, und davon hat Wang reichlich."

Shih-hui umfasst das Auftragen mehrerer Schichten und Relieftechniken, bei denen Metallpulver und Lackgips -- eine Mischung von Naturlack mit Kalk -- dazu verwendet werden, flachen Motiven und Figuren mehr Volumen und eine Textur zu verleihen. Von allen bei der Lackkunst zum Einsatz kommenden Techniken -- zeichnen, gravieren, Relieftechnik, beschichten, einlassen, schnitzen, formen, polieren, füllen, schleifen und so weiter -- gilt shih-hui als eine der schwierigsten.

Lack ist zwar an und für sich eine simple Substanz, doch für Künstler ist er ein bemerkenswert vielseitiges Medium. Beim Herstellen von Lackgemälden beispielsweise kann der Maler die Textur zusätzlich verschönern, indem er die flache Oberfläche mit Materialien wie Eierschalen, Muscheln, Gold- oder Silberpulver oder Perlmutt besprüht, verteilt oder Intarsien anlegt. "Die unbegrenzten verfügbaren Wahlmöglichkeiten bei der Anwendung von Techniken und Materialien sind bei dieser Kunstform besonders verblüffend", meint Wang Hsien-chih.

Lackarbeiten werden generell durch das Auftragen verschönernder Schichten aus Lack auf ein Objekt gefertigt. Die schwierigste Technik besteht in der Herstellung von Lackwaren ohne Trägermedium: Dazu trägt man den Lack zunächst auf ein Leinentuch auf, das nach dem Trocknen des Lacks entfernt wird. Diese so genannten "körperlosen" Lackgegenstände haben laut Wang Hsien-chih einen höheren künstlerischen Wert und erfordern ein größeres handwerkliches Geschick.

Die als Trägermedien benutzten Materialien für Lackkunst haben sich im Laufe der Zeit ebenfalls verändert. Zusätzlich zu konventionellen Stoffen wie Keramik, Holz und Bambusstreifen experimentieren manche Künstler heute mit Materialien wie Seilen, Metall und Stein. Wang senior bevorzugt hingegen die Lackmalerei. Für ein Werk braucht er normalerweise ein bis zwei Jahre. Der erste Schritt -- skizzieren nach realen Vorlagen -- kann bereits mehrere Monate in Anspruch nehmen und führt oft zu einer Vielzahl von Skizzen, die geringfügige Unterschiede bei Licht und Form aufweisen. "Solche gewissenhaften Vorbereitungen sind entscheidend, damit man das Wesentliche von unerwünschten Ablenkungen befreit und eine feine und lebendige Komposition erreicht", erläutert Wang. "Bei Komposition geht es um die Anordnung von Raum, Subjekten und Farbschemata mit Schlichtheit und Klarheit."

Wegen der Kostbarkeit von Naturlack wird der Kompositionsvorgang viele Male auf Papier simuliert, bevor die endgültige Version auf einer Holzplatte ausgeführt wird, damit nichts mehr geändert werden muss. Außerdem besteht ein Lackgemälde in der Regel aus mehreren Lackschichten, die länger zum Trocknen brauchen als übliche Malfarbe. Künstlerisches Schaffen mit Lack ist eine langsame Angelegenheit, und in seinen sechs Jahrzehnten kreativer Arbeit mit Lack hat Wang nicht mehr als etwa 50 Kunstwerke produziert, darunter einige frei stehende Objekte.

Wang Ching-shuang wurde im Jahre 1922 geboren und begann seine Laufbahn, als er in der Oberschule die Lackkunst erlernte. Er wurde ein erfolgreicher Lackwaren-Exporteur, und erst als die Nachfrage nach Exporten nachließ, kehrte er vor relativ kurzer Zeit zu künstlerischer Arbeit zurück. Wangs Erfahrungen sind in vielerlei Hinsicht charakteristisch für den Aufstieg und Niedergang des Gewerbes in Taiwan. Zwar waren Lackarbeiten und Möbel den Taiwanern nicht fremd, doch war der Produktionsumfang auf der Insel für eine größere Verbreitung der Kunst zu gering. In den zwanziger Jahren begannen die japanischen Kolonialherren jedoch mit dem Ausbau der Branche. Aus Vietnam wurden Lackpflanzen zum Anbau auf Taiwan eingeführt, 1928 wurde in Taichung ein privates Handwerkszentrum eröffnet und 1936 in eine Privatschule umgewandelt, um mehr Talente auszubilden. Wang meldete sich 1937 in der Schule an. Später entwickelte er seine Fertigkeiten unter der Anleitung mehrerer landesweit bekannter japanischer Lackkünstler weiter, reiste nach Japan und besuchte dort die Tokyo Fine Arts School, Vorläufer der Tokyo National University of Fine Arts and Music .

Im Jahre 1944 kehrte Wang nach Taiwan zurück, ein Jahr vor dem Abzug der Japaner aus Taiwan, und lehrte sein Fach an seiner Alma Mater, bis die Schule 1947 dichtgemacht wurde. Wang entwickelte einen Ruf als Lehrer und Künstler und gewann in diesen Jahren mehrere Preise in Taiwan. Nach der Schließung der Schule versuchte er sich im kommerziellen Bereich des Kunsthandwerks. Zunächst trat er als Sektionsleiter in eine Lackwaren-Produktionsfirma in Hsinchu ein. Als die Firma 1949 den Betrieb einstellte, machte Wang seine eigene Lackwaren-Fabrik in Hsinchu auf und verlegte die Fertigung später in seine Heimatstadt im Landkreis Taichung. Während der nächsten Jahrzehnte gedieh sein Lack-Unternehmen im überhitzten Exportgeschäft jener Zeit. Export von Lackwaren, besonders nach Japan, florierte außerordentlich in den siebziger Jahren, als die japanische Regierung Waldschutzmaßnahmen zur Verhütung übermäßiger Abholzung umsetzte.

Um die steigende Nachfrage nach Lackprodukten zu befriedigen, wurden neue Technologien entwickelt. Holz und Bambus wurden durch Kunststoffformen ersetzt, und es wurden preisgünstigere Arten chemischer Lacke erzeugt. Formen und Motive wurden per Seidensiebdruck ebenfalls zur Massenware. Inmitten der rasanten Kommerzialisierung der Branche bemühte Wang sich weiterhin, die Traditionen des Kunsthandwerks in Taiwan zu fördern. 1952 wurde er beispielsweise von der Kreisverwaltung Nantou gemeinsam mit dem Künstler Yen Shui-lung zur Einrichtung mehrerer Werkstätten aufgefordert, aus denen später das NTCRI entstand.

Seit 1984 wirbt das NTCRI für die Lackkunst als traditionelles Handwerk und wertvolles Kunstgewerbe in Taiwan. "Die Branche besitzt ein wirtschaftliches Potenzial", versichert Ueng Shyu-der. "Lackkunst-Möbel gewinnen auf dem europäischen Markt an Boden. Deshalb sollten wir die Kunst in das Möbeldesign und die Herstellung anderer Haushaltsgegenstände einführen." Im Oktober 2002 veranstaltete das Institut als vorläufigen Abschluss der Werbekampagne eine Ausstellung mit Kunsthandwerk verschiedener Art, darunter auch Lackarbeiten. Gezeigt wurde unter anderem ein preisgekrönter Lack -Kunstschirm von Wang Hsien-min.

Unterdessen widmet der ältere Wang einen großen Teil seiner Zeit der Entwicklung von Lehrmaterial und unterrichtet bei Workshops, die das NTCRI organisiert hat. Er betont, dass man die Kunst nur durch fleißiges Üben erlernen kann. "Was wir hier weitergeben, ist das Grundwissen", teilt er mit. "Die Fertigkeiten der Lackkunst erlernt man am besten durch Praxis. Wie weit die Schüler von dort aus kommen, hängt von ihrem eigenen Talent und ihren Anstrengungen ab."

Im Laufe der Jahre sind in dem Metier ein paar junge Meister herangereift, darunter die beiden jüngeren Wangs. Heute müssen der Vater und die Söhne für ihren Lebensunterhalt nicht länger praktische Lackgegenstände herstellen, sondern können sich dem künstlerischen Schaffen widmen. Und die Schönheit der Naturlackprodukte vergrößert sich noch beim Gebrauch. Wie Wang Hsien-chih hervorhebt, besitzt Lack eine einzigartige Eigenschaft, die viele Künstler zu dem braunen Harz des Lacksumachs hingezogen hat: "Durch die Berührung mit menschlichen Händen glänzt Lack nur noch mehr -- durch das Hantieren mehrt sich sein Glanz und seine Pracht."

(Deutsch von Tilman Aretz)

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